Torsten Hartmann

Texthäppchen über Bildschirmunterhaltung von Torsten.

Goodbye, My Love!

2016-10-09 · prosa

Eine Novelle von Torsten Hartmann.
Erschienen 2016.

Um es mit den Worten des großen Ben Affleck zu sagen:

„Go fuck yourself!“

Prolog

Regungslos sitzt sie mit dem Rücken zum exquisiten Mahagoni-Schreibtisch da. Draußen, hinter den Fenstern des Büros, hoch oben über der Stadt, leuchtet orangefarben ein Sonnenuntergang und wirft bedrohlich anmutendes Licht in den spärlich eingerichteten Raum. An drei Wänden hängen jeweils zwei Bilder, die, so versicherte man ihr, Kunst seien. Auf dem Fußboden in der Mitte des Raumes liegt ein runder Teppich, der, auch das versicherte man ihr, kunstvoll gewebt sei. Sie stutzt. Ihr schneeweißes Haar schimmert orangefarben im Licht der Sonne und wirkt dabei so ein wenig wie die billige Perücke einer Prostituierten im Film „Pretty Woman“. In kurzen Abständen wandert ihr schmollender Mund von links nach rechts, als kaue sie ein Bonbon, dessen Geschmack nicht eindeutig zu definieren ist. Sie wirkt nachdenklich, tatsächlich aber ist sie sauer. Sehr sauer. All die Jahre, die nötig waren, um endlich hinter diesem exquisiten Schreibtisch, vor dem kunstvoll gewebten Teppich, umringt von noch mehr Kunst auf diesem exquisiten Schreibtisch-Stuhl zu sitzen, drohen nichtig gewesen zu sein. All die Jahre. Für sie war es immer eine Frage des „Wann“, nie des „Ob“. Zuversicht ist auf Seiten derer, die es wagen über Leichen zu gehen. Das war schon immer ihre Devise.

Sie stößt einen erdrückten Seufzer durch die Nase und schließt die Augen. All die Jahre.

Jemand stöhnt leise.

Vor ihr auf dem Tisch liegt ein geöffnetes Briefkuvert. Daneben, sorgfältig am Rand der ledernen Schreibtisch-Unterlage ausgerichtet, liegt ein exquisiter Brieföffner, der, so versicherte man ihr, einem japanischen Samurai-Schwert nachempfunden sei. Auf dem Umschlag stehen, handschriftlich vermerkt, drei Worte: „Nobunaga Container Ôsaka“.

Mit einer unauffälligen Bewegung dreht sich die Frau auf ihrem Drehstuhl um einhundertachtzig Grad und blickt über den exquisiten Mahagoni-Schreibtisch in den großen, weitgehend leeren Raum hinein. Es ist still. Auf einer Anrichte winkt eine japanische Glückskatze und wüsste diese Katze, wie total nervig die Frau hinter dem Schreibtisch dieses Winken in diesem Moment findet, sie würde sich den Arm ausreißen.

Wieder stöhnt jemand.

Verachtend blickt sie vor sich auf den Fußboden und winkelt ihr linkes Bein leicht an, um ihren Schuh zu inspizieren. Sie zieht die Augenbrauen hoch und ignoriert eine Hand, die am Boden hinter ihrem Schreibtisch hervorragt und unregelmäßig zusammenzuckt.

Das Stöhnen verwandelt sich in ein leises Jammern.

Sie greift nach einem Mobiltelefon, das ordentlich vor ihr auf dem Schreibtisch daliegt. Ihr Daumen schnellt geschickt über den kleinen Bildschirm, woraufhin eine sehr leise Melodie aus dem Lautsprecher des Telefons heraus verträumt „Für Elise“ spielt.

Jemand meldet sich.

„Wir müssen reden“, erwidert sie, ohne eine Begrüßung voranzustellen. Noch bevor die Person am anderen Ende überhaupt den Hauch einer Chance hätte zu reagieren, nimmt sie das Telefon wieder vom Ohr und trennt die Verbindung.

Das Stöhnen ist jetzt ein leises Gurgeln. Es erinnert an ein altes Wasserrohr, das sich hinter einer Wand darauf vorbereiten, nach langer Zeit endlich einmal wieder Wasser zu transportieren. Rostiges, altes Wasser.

Sie blickt teilnahmslos hinab auf den Fußboden und zur Quelle des Gurgelns.

Die Hand am Boden zuckt wieder.

Zuversicht ist auf Seiten derer, die es wagen über Leichen zu gehen, denkt sie und greift mit der linken Hand zum exquisiten Brieföffner.

Goodbye, My Love

Nennt mich Ishmael, wenn es euch Freude bereitet.

Ich bin nervös. Man könnte sagen, die Nervosität der letzten Stunden hat ihren Höhepunkt oder besser: den absoluten Siedepunkt erreicht. Würde ich jetzt meine Hand ausstrecken, würde sie zittern und alle wüssten sofort Bescheid. Bescheuert. Natürlich wissen sie es auch so. Schließlich wird das Zeug genau hier ausgegeben. Ein kalter, grauer Raum. Die Sonne scheint durch ein Fenster an der Decke und spendet nur Staub und kein Licht. Wie kleine Einzeller in der Ursuppe schweben Millionen kleine Teilchen um mich herum. Es stinkt nach Desinfektion und Kamille. Damit habe ich es auch versucht. Ernsthaft versucht. Kamille, Pfefferminz, scharfer Senf, heiß geduscht, kalt geduscht, gar nicht geduscht. Einmal habe ich sogar den Herd angemacht, nur um nach einer halben Stunde mein Gesicht in den heißen Strom der erhitzen Luft zu halten, die beim Öffnen des Ofens herausströmt. Nichts hat geholfen. Gar nichts. Jetzt stehe ich wieder hier. Und sie steht wieder vor mir. In ihrem weißen, gebügelten Kittel und mit ihrem kerzengerade geschnittenen Pony. Ihre Augen und ihr einer Mundwinkel sprechen Bände: Er hat es wieder nicht geschafft. Der Verlierer! Ich lasse mich von ihrem Blick aber nicht unterkriegen. Nee. Ich gucke sie mit der gewaltigsten Leere an, die mein Blick ihr vorzugaukeln vermag. Das kann er, mein Blick. Müsste ich in einem Fragebogen, zum Beispiel beim Beantragen eines neuen Personalausweises, meine Superkraft angeben, ich würde dort hinschreiben wie super gut ich leer geradeaus starren kann. Das mag jetzt nicht so großartig super klingen, wie etwa fliegen, Laseraugen oder Unsterblichkeit, aber es hilft einem trotzdem ganz ungemein in allen möglichen Alltagssituationen. Wer hat Zeit mir Samstag beim Umzug zu helfen? Leerer Blick. Wer ist heute dran mit Brötchen holen? Leerer Blick. Wer hat auf der Toilette im zweiten Stock geraucht und die Kippe danach ins Klo geworfen? Leerer Blick, vorsichtshalber aus dem Fenster gerichtet. Wer ist nach einer Woche wieder da und holt sich seine Droge ab? Leerer Blick. Meine Armbeugen kribbeln. Verlierer, denkt sie. Das sehe ich genau. Aber sie sagt nichts. Sie schaut mich nur an. Mit einem leeren Blick. Pures Kryptonit. Venom. Irgendwas gelbes. Wie Superheld und Superschurke stehen wir uns gegenüber und auf halbem Wege treffen sich unsere identisch starken Superkräfte. Ein Duell, anstrengender als ein Marathon. Ich kämpfe. Sie kämpft. Keiner gibt auf. Jetzt müsste ein Monolog kommen. Ein in die Höhe gestreckter Arm mit geballter Faust und eine donnernde Stimme, die großspurig den Untergang des anderen ankündigt. Mir fällt aber kein weiterer Monolog ein. Ich führe ja schon einen. Und ehrlich gesagt will ich auch gar nichts zu ihr sagen. Sie aber schon. Sie fast sich kurz:

„Das Nasenspray bitte nicht länger als eine Woche einnehmen.“

Leerer Blick.

„Möchten Sie noch die aktuelle Apotheken-Rundschau dazu?“

Verdammt, denke ich. „Danke, nein“, sage ich.

„Traubenzucker?“

Ich liebe Traubenzucker. „Nein danke!“ Was!? Ich brauche das verdammte Spray, Mädchen!

Ihr Blick verrät, dass sie meine Nervosität erkannt hat. Eben noch Clark Kent, jetzt Peter Parker. Die erste Regel im Superhelden Club: Geweint wird zuhause! Ich hab's versaut.

„Ich habe hier ein Spray mit Meersalz-Lösung. Das schont die Schleimhäute und kann längerfristig angewandt werden. Möchten Sie, dass ich Ihnen eine Probe davon mitgebe?“

Genüsslich kostet sie ihren Triumph über mich aus, dreht die Klinge in meinem Körper immer und immer wieder um die eigene Achse. Ausgerechnet mit dem Methadon-Programm. Guter Versuch, aber in der Liga spiele ich schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ich lache innerlich. Ha, ha! Ich greife mir die Packung mit dem Spray, murmele „bis nächste Woche“ und richte meinen leeren Blick in Richtung der Tür. Ich halte kurz inne. Irgendwas war noch. Ba-Damm! Vielleicht dieses asiatische Balsam, bei dem man nicht weiß, ob es sich heiß oder kalt anfühlt? Ba-Damm! Meine Nasenschleimhaut pocht wie die Schritte eines fetten Dinosauriers. Ba-Damm! Raus hier!

Draußen blendet mich die Sonne derart stark, dass ich das Gefühl habe zu erblinden. Es riecht nach Döner-Fleisch und Soße. Autos hupen. Ich ignoriere den Geruch und den Lärm und atme tief durch den Mund ein. Dann reiße ich die Kartonverpackung des Nasensprays auf, gebe ihr einen Ruck nach oben, fange elegant das herausfliegende Fläschchen auf, entferne die Plastikkappe mit den Zähnen, spucke sie achtlos auf die Straße, schieße eine Ladung des kostbaren Medikaments vor mir in die Luft und verpasse mir danach zweimal je eine Dröhnung. Linkes Nasenloch, rechtes Nasenloch. Weltfrieden in meinem Hals-Nasen-Ohren-Trakt. Herrlich.

Eins

Hannover ist keine so richtig schöne Stadt. Das ist der Preis, wenn man im Krieg zu den Idioten gehörte, die ihre Klappe viel zu weit aufgerissen haben und dafür berechtigterweise einmal komplett von der Erdoberfläche gebombt wurden. Danach wusste halt niemand so genau, wo die vielen Menschen hin sollten, die den Mist überlebt hatten. Das wurde dann eben nicht schön gebaut, sondern eher so praktisch. Ich blicke die praktischerweise sehr breite Straße in Richtung stadtauswärts und warte auf die Straßenbahn. Es ist unheimlich. Nicht weil Hannover ein wenig hässlich ist, sondern weil irgendetwas faul ist. Das ist jetzt bereits seit einigen Wochen so. Irgendetwas stimmt nicht mit der Welt. Es ist ungewöhnlich heiß für einen Oktober, die Pole schmelzen wohl schneller denn je und man verbrennt sich auch schneller die Haut. Die Menschen sind nervös. Hamsterkäufe. Kriminalität. Naturschützer und Umweltschützer laufen mit dem Hab-ich-doch-gesagt-Gesicht durch die Gegend und zeigen mit dem Finger auf alles, was nicht bei Drei nachhaltig auf einem Baum sitzt. Im Fernsehen streiten sich die Experten darum, wer denn jetzt wirklich ein Experte sei und ob das Ende nun nah, beinah oder noch was hin ist.

Falls mich jemand nach meiner persönlichen Einschätzung der Lage fragt: Zombie-Apokalypse. Das ist natürlich bloß ein Scherz. Mal ehrlich: Ich stehe hier auf einem Bahnsteig in Hannover-Vahrenwald und wären wirklich Zombies auferstanden und unterwegs, würde ich es hier wohl als letztes bewusst bemerken. Menschen schlurfen zur Bahn, zum Kiosk, zum Bäcker. Sie stöhnen und grunzen. Ich bin auch zur Bahn geschlurft und ganz sicher habe auch ich mindestens einmal dabei laut gestöhnt. Weil es scheiße heiß ist für einen Oktober. Aber das erwähnte ich ja bereits. Als Zombie-Nerd wünscht man sich halt insgeheim, dass, wenn die Welt schon am Scheidepunkt ihrer Existenz angelangt ist, es wenigstens eine Zombie-Epidemie sein würde. Das ist bekanntes Terrain und wir bilden uns ein, mit einer solchen Extremsituation natürlich locker klarzukommen. Immerhin haben wir das alles schon zig mal beobachtet und auf PC und Konsole geübt. Die B-Movies und die Survival-Horror-Spiele sind plötzlich Lehrfilme. Max Brooks erklärt uns in seinen Büchern den Rest. Den Kram, den Romero uns die ganze Zeit über verheimlicht hat. Keine 30 Minuten würde es dauern, bis die perfekte Illusion zerrissen wäre, wie unsere Arterie zwischen den fauligen, braunen Zähnen eines Untoten, den wir dummerweise im Schlafzimmerschrank, in einer öffentlichen Toilette oder unter einem Berg Müll übersehen haben. Ende. Aus. Noch bevor es überhaupt richtig losgegangen wäre.

In Hannover Vahrenwald musste man früher nie Angst haben. Jetzt ist das anders. Einige der Zombies in meiner Nachbarschaft haben den leeren Blick (an dem auch ich so beharrlich festhalte) gegen kritisches Beäugen getauscht. In diesem Moment beäugen mich auch wieder drei, vier Augenpaare, während ich mit leerem Blick stadtauswärts gerichtet auf die Bahn warte. Ich fühle mich, wie so oft in den letzten Tagen, beobachtet. Und verfolgt. Ja, sogar bedroht. Heute morgen traf ich deswegen die schwierige Entscheidung, etwas für meine Verteidigung zu tun und ich bilde mir jetzt ein, dass es eine gute Entscheidung war. Jedes Anzeichen einer aufkeimenden Vermutung, dass an dem Menschen, den ich zu diesem Zweck gleich treffen werde und der sich online „BraunerBär88“ nennt, irgendetwas suspekt sein könnte, ersticke ich im Rausch meiner freien Nase erfolgreich im Keim.

In einem Büro, das irgendwie nach IT aussieht klingelt ein Telefon auf einem sehr aufgeräumten Schreibtisch. Der dazugehörige Schreibtisch-Stuhl ist unbesetzt und steht ordentlich unter den Tisch geschoben da. Im Nebenzimmer verendet knarzend aber verdient der Rest dessen, was einmal „Risin' High“ von den H-Blockx war, bevor ein billiger Aktivlautsprecher es aufs gröbste verstümmelt hat. An der Wand hängt ein Poster mit einem Raumschiff aus irgendeiner Science-Fiction-Serie drauf. Den unzähligen Löchern nach zu urteilen, die rund um die Reißzwecken zu erkennen sind, wurde es bereits einige Male umgehängt. Daneben klebt, mit vier Streifen eines durchsichtigen Klebebands eher so unschön befestigt, ein Urlaubsplaner. Die aktuelle Woche ist mit rotem Filzmarker und dem Hinweis auf irgendein Science-Fiction-Event markiert.

Das Telefon verstummt. Nur um nach ein paar Sekunden wieder mit dem Klingeln anzufangen.

Es geht immer noch niemand ran.

Mit seinen schwarz getönten Haaren und dem ebenfalls schwarz getönten Schnurrbart wirkt „BraunerBär88“ wie die Sechziger-Jahre-Technicolor Version von Omar Sharif. Ich schätze ihn auf Anfang Fünfzig und tue ihm damit einen Gefallen. Er trägt einen Armee-Anorak und eine Tarnhose. In seiner linken Hand hält er eine Umhängetasche, in der rechten eine verspiegelte Sonnenbrille. Wir sitzen auf einer Holzbank und ich starre auf Namen, die mit einem spitzen Gegenstand in das Holz eben dieser Bank geritzt wurden. Dort steht „Niko liebt Chantal“. Chantal ist durchgeritzt und darunter steht „Jolante“. Jolante ist durchgeritzt und darunter steht wieder „Chantal“. Durchgeritzt. An einer anderen Stelle der Bank steht „Chantal liebt“. Wen oder was Chantal da liebt, wird von Omar Sharifs Gesäß verdeckt. Verdammt. Ich blicke vorsichtig nach oben, mitten in sein ungläubiges Gesicht. Ertappt schaue ich schnell nach vorne auf den Spielplatz. Gut ein halbes Dutzend kleiner Kinder spielt an Klettergerüsten, in Sandkästen und auf sich drehenden Geräten, während Eltern besorgt in wenigen Metern Entfernung Wache schieben. Die Kinder teilen die Besorgnis der Eltern nicht. Sie schreien, rennen, klettern, spielen, schreien und sie schreien.

„600“, sagt Omar Sharif neben mir auf der Bank.

„Euro?“ erwidere ich schockiert und blicke unsicher. Er starrt mich an. Aber er nickt nicht.

„Nein. Sesterzen.“, dann schüttelt er ungläubig den Kopf, „Natürlich Euro, Mann!“

Wir blicken wieder geradeaus, auf den Spielplatz. Wir schweigen. Mein Blick fällt auf einen kleinen Junge, der einem Mädchen etwa gleichen Alters im Sandkasten gegenüber sitzt und zuschaut, wie diese mit einer Schaufel kleine Sandförmchen füllt. Sie serviert einem imaginären Gast vier sandige Kuchen und schaut zufrieden auf das Ergebnis.

600 Euro, denke ich bei mir.

Der Junge starrt erst die Törtchen an, dann das Mädchen, dann wieder die Törtchen, das Mädchen, den eigenen Vater, das Mädchen. Mit einem Ruck entreißt er ihr plötzlich die Schaufel und haut sie ihr mehrmals im Takt immer wieder auf den Kopf, während er wie ein Besessener dabei lacht. Die Kleine scheint das zwar zu verunsichern, nicht aber wehzutun. Wir starren beide weiter auf den Jungen, die Schaufel und auf das verdutzte Mädchen, sagen aber nichts.

600 Euro ist viel Geld, denke ich.

Der Vater des Jungen, der neben uns auf einer anderen Bank sitzt und einen Soja-Latte im Starbucks Becher to-go trinkt, erhebt sich zügig und nähert sich stürmisch der beunruhigenden Szene im Sandkasten. Sein Kaffee kommt ihm dabei abhanden und verteilt sich zwischen den bereits fertigen Sandkuchen des Mädchens. Er ermahnt den Sohn mit sanfter, wenig autoritärer Stimme und bittet ihn, die Schaufel wieder zurückzugeben. Der gehorcht widerwillig, reicht das Werkzeug der Kleinen und setzt seine verbittertste Mine auf.

Sie zögert kurz, greift dann aber zu. Mit der Schaufel in der Hand schaut sie den Jungen unsicher an und scheint die neue Situation zu analysieren. Dann schlägt sie ihm das Spielzeug mit aller Kraft mitten in das verbitterte Gesicht.

„Angriff ist eben doch die beste Verteidigung!“ Omar Sharif grinst zufrieden und spricht mit lauter Stimme, um vom Geschrei des überraschend stark blutenden Jungen nicht übertönt zu werden. „600 Euro.“

Ich zucke zusammen, als ich von der Szene im Sandkasten ablasse. „Ich … äh. Ich weiß gar nicht, ob ich das … kann. Das Teil benutzen, meine ich“, stottere ich.

Omar Sharif schließt die Augen und holt tief Luft. „Junge!“, sagt er, sich selbst beruhigend, „Wenn es hart auf hart kommt und dir so eine Zecke mit einem Messer an die Kehle will, dann heißt es eben du oder die Zecke. Und wer will da schon die Zecke sein?“

Ich blicke kurz vor mir auf den Spielplatz ins Leere. Nein, die Zecke hat mich nicht überzeugt. Eher das Gegenteil. Ich versuche sicheren Boden in der Unterhaltung zu finden, während ich gefühlt am kleinen Finger über einem Abgrund hänge. „Kann ich das Ding denn einfach so benutzen? Könnte … könnte ich es vielleicht vorher ausprobieren?“, stottere ich.

„Klar, gleich hier“, antwortet Omar Sharif, ohne seinen Blick vom Sandkasten abzuwenden. „Am besten an dem plärrenden Quälgeist dort drüben“. Er nickt in Richtung des blutenden Jungen, dessen Vater ungeschickt Erste Hilfe mit einer Starbucks Serviette leistet.

Dann greift er in seine Umhängetasche und legt mir eine Plastiktüte in den Schoß. Ich erschrecke ob ihres Gewichts und starre an mir herunter als läge dort ein toter Hund.

„Fünfzig Schuss Munition gibts umsonst dazu. Keine Nummer, keine Registrierung. Direkt aus der Fabrik. Entwendet vor dem ganzen Kram. 600 Euro und dein Leben liegt wieder in deinen Händen, Mann.“ Er blickt zu mir rüber. „Ja oder Nein? Ich habe noch eine Verabredung mit den Zecken. Da geht es um weit mehr als um einen mickrigen Revolver. Also los jetzt.“

Ich schlucke. Die Zecken bewaffnen sich also auch, denke ich bei mir und frage mich, wer oder was diese Zecken wohl sind? Ich hole tief Luft. „Ich habe 472 Euro und 30 Cent“, sage ich kleinlaut und blicke vorsichtig zu ihm rüber. Ich erkenne eine Mischung aus Unglauben und Kopfschütteln in seinem Gesicht, während er mich verächtlich anschaut und tief seufzt.

Mit 30 Cent, fünf Patronen und einem Revolver der Marke Heckler und Koch in der Tasche, steige ich wieder in die Bahn stadteinwärts.

In einem schlecht beleuchteten Raum, der irgendwie nach IT aussieht und dessen Fenster mit Vorhängen und Rollos zugezogen sind, sitzen sich zwei Mitarbeiter an zwei mit dem Rückwänden aneinander geschobenen Schreibtischen gegenüber. An den mit Monitoren und Computern übersäten Wänden ringen blinkende Zeichen und Ziffern hektisch und monochrom um Aufmerksamkeit. Der ältere der beiden Mitarbeiter kaut, vertieft in einen seiner Bildschirme, an einem Krapfen, wobei er unachtsam etwas von der fruchtigen Füllung auf sein kariertes Hemd kleckert. Entweder bemerkt er dies nicht oder es ist ihm egal. Der jüngere, sehr hagere Kollege trägt kurzes, lockiges Haar und ein T-Shirt, auf dem ein Internet Meme mit einem Panda, einer niedlichen Katze und einem besoffenen Tapir in so etwas wie einer Bar, aufgedruckt ist. Er nickt im Takt undefinierbarer Musik, die sich knarzend aus den Aktivboxen seines Computers quält. Mit viel Fantasie könnte es „Sweet Dreams“ von Eurythmics sein. Oder was von Rage Against The Machine. Er verschiebt, beinahe zum Takt der Musik, Dinge mit dem Mauszeiger auf dem Bildschirm, als er plötzlich in der Bewegung verharrt.

Das Klicken der Maus verstummt.

Der Zeiger auf dem Monitor ruht über einer Videodatei mit dem Namen „Nobunaga Container Osaka“.

Er stutzt. Normalerweise befanden sich in dieser dunklen, fast schon verwaisten Ecke des Firmennetzwerks lediglich Musik- und Film-Dateien, die er selbst, geschickt an seinem Chefadministrator vorbei, aus dem Netz heruntergeladen hatte. Nobu-irgendwas-Container hieß sicher keine davon.

Er wählt die Datei mit einem Doppelklick an, woraufhin sich lediglich ein schwarzes Fenster öffnet. Sonst passiert in dem Fenster nichts. Etwas verwirrt blickt er über den Rand seines Monitors zu dem mit Marmelade verschmierten älteren Kollegen hinüber. „Äh. Sagt dir der Name Nobunaga irgendetwas?“

Der Ältere tippt offensichtlich an einem längeren Text und schüttelt abwesend den Kopf, ohne vom Bildschirm hochzuschauen.

„Nobunaga Container?“

Wieder schüttelt sich der andere Kopf abwesend.

„Deine Mutter?“

Kopfschütteln. Abwesend.

Genervt blickt er zurück auf den Monitor, zuckt dann mit den Schultern und löscht mit einer magisch anmutenden Handbewegung die fragwürdige Datei. Sicher ist sicher, denkt er bei sich. Schließlich sollte man seine Nase besser nicht in Angelegenheiten stecken, die einen vielleicht nichts angehen.

An einem Ende des Büros führt ein Gang einige Meter zu einem Fahrstuhl, der die einzige Verbindung zu den anderen Etagen zu sein scheint. Ein wunderschön altmodisches Klingeln kündigt in diesem Moment das Ankommen der Fahrstuhlkabine an. Beide Kollegen greifen in harmonisch synchronisierter Bewegung zu ihren Smartphones, wundern sich beim Anblick der leeren Bildschirme und blicken daraufhin erstaunt zur Fahrstuhltür. Offensichtlich kommt es nicht besonders oft vor, dass sich jemand in diese Abteilung verirrt.

Die Tür öffnet sich langsam und eine Person tritt heraus. Ein hochgewachsener, älterer, glatzköpfiger Mann blickt die beiden Männer streng an. Über seiner Schulter hängt so etwas wie ein schwarzer Seesack, an seiner ebenfalls schwarzen Cargo-Hose trägt er ein ziemlich großes Kampfmesser und in der linken Hand hält er, auf Kopfhöhe, eine schallgedämpfte Pistole. Der Lauf ist nach oben gerichtet. Er schaut grimmig drein und blickt sich im Raum um.

Die beiden Kollegen schauen erst sich und dann den Glatzköpfigen erstaunt und auch etwas ratlos an. Noch bevor einer von ihnen dieses Erstaunen in Worte fassen und zu Tage befördern kann, zerreißt ein seltsam dumpfes Geräusch zweimal die so plötzlich eingetretene Stille. Der jüngere Mann blickt auf die Stirn seines Kollegen und wundert sich dort über ein kleines schwarzes Loch mit rotem Rand, aus dem etwas Blut rinnt, bevor er an dem in seiner eigenen Stirn stirbt. Beide sacken in sich zusammen und hängen leblos auf ihren Bürostühlen.

Der Schütze blickt gefasst auf die beiden regungslosen Körper, senkt den Kopf etwas zur Seite und analysiert kühl die Lage. Sein Blick gleitet durch den Raum. Es scheint, als suche er etwas. Dann fängt er an, Notebooks, externe Festplatten und die beiden Smartphones der Toten in den schwarzen Seesack zu stopfen. Mit dem prall gefüllten Sack über seiner Schulter sucht er weiter jede Ecke des Raumes ab, als ihn plötzlich ein Geräusch erstarren lässt. Anstatt aufzuschrecken und nachzusehen, presst er bloß ein bisschen genervt die Lippen zusammen, wirft einen prüfenden Blick auf seine Waffe, dreht dann den Kopf nach links und blickt in das blasse Gesicht eines dritten Mitarbeiters, der mit einem Mandel-Marzipan-Hörnchen in der Hand in einer Tür zu einem Nebenraum steht.

Der Glatzköpfige lächelt falsch. Beide bewegen sich nicht. Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein. Irgendwo surrt ein elektronisches Gerät und piept dann. Das Telefon im Nebenraum beginnt zu läuten. Niemand geht ran.

Der Mitarbeiter schluckt ein Stück Hörnchen herunter, welches er bereits beim Betreten des Raumes abgebissen hatte.

Das seltsame, dumpfe Geräusch ertönt ein drittes Mal.

Es ist richtig scheiße heiß in der Straßenbahn. Durch die Fenster wirft die erstaunlich tief hängende Sonne ihr bedrohliches Licht, das wie Geister an mir und den anderen Fahrgästen vorbei huscht. Ich habe bei drei Personen in einem Viererblock Platz genommen. Ich traue zwar auch in der Bahn keiner Seele weiter als eine Sitzlänge über den Weg, aber ich bin müde und außerdem stinkfaul. Vor mir sitzen zwei dickere Männer, der linke bekleidet mit einem weinroten Pullunder und einer beigen Hose, der rechte mit einem langen T-Shirt mit Tupac Shakur, Biggie Smalls oder was weiß ich welchem toten Rapper drauf. Ich senke den Kopf etwas zur Seite und kneife die Augen zusammen. Es könnte auch Tony Montana sein. Jeder von ihnen trägt Marken-Kopfhörer eines Multimillionärs aus Compton, South Central, aus denen sehr laute Musik tönt. Unterschiedliche Musik. Sie summiert sich zu rauschendem, lauten Krach. Sie unterhalten sich trotzdem. Nur lauter. Tony Montana redet fast ununterbrochen auf den Pullunder ein und beendet dabei jeden Satz aufs neue mit der bezeichnenden Wortschöpfung „Weißtischmein“, die einen grenzdebilen Verstand vermuten lässt.

„… da hab ich ihr gesagt: nee, Nutte, hab ich ihr gesagt, weißtischmein?“

„Weiß isch, mann, weißtischmein?!“, sagt oder fragt der Pullunder.

Waldmeisterschwein, denke ich bei mir und wundere mich, womit diese Leute ihre Kappen an den Haaren befestigen, die augenscheinlich ja nur aufgelegt sind. Dann fällt mir ein, dass ich gar nicht blöd genug bin, um das wissen zu wollen. Ich höre ihnen unfreiwillig weiter zu, verstehe aber keinen zusammenhängenden Satz. Der Pullunder wohl schon. Schwört er. Dabei nickt er die ganze Zeit über total bescheuert mit dem Kopf. Ich meine jedesmal ein leises Tock! von der haselnussgroßen Murmel hinter seiner Stirn zu vernehmen.

Ich werde von dem Krach des Gesprächs und der lauten Musik merklich nervös. Und von der sehr schweren Pistole in meiner Parka-Tasche auch. Ich ertaste sie ständig von außen und stelle immer wieder erleichtert fest, dass sie noch da ist. Nicht weil ich mich dann wie erhofft sicherer fühle, sondern weil es mir unendlich peinlich wäre, wenn die Pistole aus meiner Tasche fallen und plötzlich neben mir auf dem Sitz liegen würde. Jedesmal, wenn die Bahn stärker ruckelt, weil sie über eine größere Schweißnaht oder eine Weiche fährt, knallt der Revolver in meiner Tasche seitlich gegen den Plastiksitz und erzeugt ein lautes Geräusch. Jedesmal zucke ich zusammen. Der russische Schriftsteller Anton Tschechow hat mal gesagt, dass eine Waffe, die im ersten Akt einer Geschichte eingeführt wird, im letzten Akt abgefeuert werden muss. Ich hoffe inständig, dass wenn ich diese Waffe wirklich abfeuern muss, es eben nicht mein letzter Akt ist. Viel inständiger hoffe ich allerdings, dass sie gar nicht abgefeuert wird.

Ich blicke vorsichtig und aus dem Augenwinkel heraus neben mich. Dort sitzt eine Frau, die ich auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig schätze. Wahrscheinlich liege ich damit total daneben, denke ich beim Anblick eines Spandau Ballet-Aufnähers am Ärmel ihrer Jeansjacke. Sie trägt einen blauen Rock und schwarze, grobmaschige Strumpfhosen. Die Arme verschränkt, schaut sie aus dem Fenster.

Das Licht von draußen taucht das Innere des Wagens in ein schauriges Rot. Ich frage mich, ob ich mir das nur einbilde oder ob es in den letzten Minuten wirklich noch ein Stück wärmer geworden ist. Ich öffne die obersten Knöpfe meines Parkas.

Tony Montana überschlägt sich jetzt fast und spuckt beim Reden aus Versehen auf meine Hose und die Strümpfe meiner Sitznachbarin. Ich bin angewidert, halte mich aber zurück. Sie nicht.

Tony mustert die Frau geringschätzend und lässt dann einen ziemlich dummen Kommentar ab. Ich muss an die Murmel denken.

Mit geballten Fäusten, links und rechts von ihrer Taille, springt sie auf und schreit ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Irgendwas mit kleinen Schwänzen, Dosenbrot und seiner Mutter. Ich sehe erstmals ihr Gesicht. Es ist das wutentbrannte Gesicht jahrzehntelanger Alltags-Diskriminierung, bilde ich mir ein. Ich starre sie an. Sie ist irgendwie auch sehr attraktiv, was sicherlich keine Einbildung ist.

Montana explodiert. Ich schätze, dieser eine Teil mit der Mutter hat ihm nicht gefallen und ihn letztendlich dazu bewegt, der Frau mit der flachen Hand in ihr überraschtes Gesicht zu schlagen. Eine Bauchfalte lässt den Tony Montana auf Tony Montanas T-Shirt aussehen, als schließe er beschämt die Augen.

Vor Schreck halte ich mir die eigene Wange.

Die roten Strahlen der Sonne blenden mich. Die Bahn quietscht schrill und gequält beim Anfahren der Haltestelle. Es ist heiß. Und totenstill. Niemand bewegt sich. Keiner im Wagon sagt etwas. Alle starren … mich an.

Verwundert blicke ich in die Gesichter der anderen Fahrgäste und in das der soeben geschlagenen Frau. Sie blickt erschrocken auf meine Hand. Zu meiner eigenen Verwunderung halte ich dort, fest umklammert und mit ausgestrecktem Arm, den Revolver, der ziemlich genau auf den nun sehr ängstlich dreinschauenden Tony Montana zeigt.

Die Stille ist erdrückend. Die Hitze auch. Das rote Licht färbt die Szenerie bizarr ein. Die Türen der Bahn öffnen sich und bevor sich irgendwer traut irgendetwas zu bewegen, greift sie meinen Arm und zerrt mich mit ihr zusammen hinaus ins Freie. Ich blicke durch die Fenster zurück in das Wageninnere und in die Gesichter der Fahrgäste, als wir auf dem Bahnsteig abrupt zum Stehen kommen. Meine Schulter rammt sich ihr grob in den Rücken. Ich überlege mich zu entschuldigen, aber sie hat es offenbar gar nicht bemerkt. Sie starrt in die Wolken und ich tue es ihr verwundert gleich. Erst jetzt bemerke ich, dass das rote Licht um uns herum gar nicht die Sonne ist, sondern ein über alle Maßen bedrohlich wirkendes … Ding. Ein gigantischer Feuerball, der dort oben lodernd über uns allen am Himmel hängt.

Krass, denke ich.

Zwei

Ich bin nicht unzufrieden mit meinem Körper. Klar, von einem durchtrainierten Zwanzigjährigen bin ich weit entfernt. Von einem durchtrainierten Vierzigjährigen leider auch. Aber unzufrieden bin ich trotzdem nicht. Ich kann Treppen steigen, ohne gleich rot anzulaufen. Und ich kann kurz rennen, um die Bahn noch zu erwischen. Auch ohne rot anzulaufen, aber schon mit leichter Kurzatmigkeit. Es steht auf meiner To-Do Liste. Das Sport machen. Als ich dreißig wurde, habe ich mich entschieden mit vierzig Sport zu machen. Als ich vierzig wurde, war mir klar, dass ich dafür dreißig sein muss. Als ich in diesem Moment aber auf dem Rücken liegend an mir herunter schaue und ihre Stirn gleichmäßig und im Takt immer wieder unter meinem Bauch auf- und abtaucht, ärgere ich mich ein kleines bisschen, dass das mit dem Sport und meinem durchtrainierten Körper nicht mehr geklappt hat. Sie scheint es in diesem Moment allerdings nicht sonderlich zu stören. Oder sie hat die Augen zu.

Die Sache mit der Pistole in der Bahn ist jetzt zwei Tage her. Zwei Tage, in denen sich einiges getan hat. Ein riesiges, orangefarbenes … Ding, ein leuchtender Himmelskörper, hängt über unserem Planeten und droht diesen zu zerstören. Oder auch nicht. So richtig im Klaren darüber ist sich nämlich niemand. Die einen sagen so, die anderen so. Egal, auf welchen Kanal man schaltet, im Fernsehen gibt es bloß noch mehr Expertenrunden, die entweder sagen, dass wir alle sterben werden oder aber felsenfest vom Gegenteil überzeugt sind. Menschen bleiben in ihren Häusern und erliegen der Illusion, ein Dach über dem Kopf könnte sie vor dem schützen, was da oben hängt und bedrohlich gleißend brennt.

Wir haben die Wohnung nach dem ersten Schrecken auch nicht mehr verlassen. Dafür haben wir die Zeit hauptsächlich im Bett verbracht. Irgendwas zwischen dem vielleicht letzten Mal Sex und der mir zugefallenen Beschützer-Rolle hat dazu geführt, dass dies nicht die schlechtesten Tage meines Lebens waren. Selbst meine Nasenschleimhäute sind seit Mittwoch nicht mehr angeschwollen. Heute ist Freitag. Das ist ein Rekord. Ich würde gerne in die Apotheke gehen, mich mit geschwollener Brust vor der Apothekerin aufbauen, diabolisch lachen und ihr dann erklären, dass ich eben nicht mehr der Loser bin, der jede Woche neuen Stoff bei ihr kauft. Ich … Ich bin gekommen.

Es klopft an der Tür. Eine Sicherheitstür. Eine absolut sehr sichere Sicherheitstür, die wirklich absolut sicher ist, mit absoluter Sicherheit sehr viel Geld gekostet hat und die eine wunderbare Illusion der Sicherheit in den eigenen vier Wänden erzeugt. Entschuldigung, man darf in Zeiten wie diesen ja wohl paranoid sein! Und jetzt, mit diesem … Ding da oben, hat sie sich ja erst richtig bezahlt gemacht. Ich muss an den kalten Stahl der Tür denken und schließe verträumt die Augen. Sie war wirklich sehr teuer und so ein wenig sieht es immer aus, als wäre sie das Tor zu einem Heizungskeller oder dem Chemieraum meiner alten Schule, aber: Dieses wohlige Gefühl absolut sicher zu sein gefällt mir gut! Ich mag diese Tür sehr.

Es klopft noch einmal und ich schrecke auf.

Sie sitzt in der Küche und trinkt meinen Kaffee.

Ich gehe schon, sage ich und gehe. An der wirklich sicheren Tür angekommen, erinnere ich mich an den Zustand der Welt und verhindere gerade noch so, den Zugang zu meiner Wohnung allzu unachtsam allem potentiell Bösen da draußen zu gewähren. Ich blicke durch den Flur ins Wohnzimmer, vorbei an dem Pearl Harbor Poster mit Ben Affleck drauf und schaue aus dem Fenster ins rote Licht. Vorsichtig, denke ich bei mir. Vorsichtig! Mein Blick durch den Türspion fällt auf eine Kappe mit dem Logo irgendeiner längst aufgegebenen Science-Fiction-Fernsehserie.

Och nee. Der Nachbar aus dem Zweiten. Jetzt muss ich an das denken, was ich die letzten Tage im Internet recherchiert habe: Kannibalen. Das Schlimmste an Apokalypsen jeder Art sind die Kannibalen! Bilder von Menschen, die aktuell dem Kannibalismus frönen, gab es aber keine, weshalb ich nun etwas hilflos durch meinen Türspion auf die Kappe des Nachbarn starre und ziemlich dämlich „Sind Sie jetzt Kannibale?“ rufe. Es ist mir bereits eine Sekunde später unendlich peinlich.

„Was?!“, dringt es durch die Tür hinein.

„Ein … äh, ein Kannibale. Sind Sie jetzt ein Kanibale?“, frage ich noch einmal und schlage meine Stirn mit geschlossenen Augen gegen den kalten Stahl der Wohnungstür. Weltuntergang liegt mir nicht so.

„Kannibale …“, tönt es durch das Holz, „… wird man in der Regel doch erst, wenn es nichts mehr zu Essen gibt! Der Rewe an der Ecke hat aber immer noch auf.“

Ich stimme ihm gedanklich zu und nicke. Verdammt. Vielleicht reagiere ich ja gerade über? Ich beschließe, mich auf die Illusion der Sicherheit in meinen eigenen vier Wänden einzulassen, gebe nach und öffne die schwere Tür. „Wenn Sie Hunger haben, ich habe Krapfen da. Es ist also nicht nötig mich zu essen.“, begrüße ich den Nachbarn.

Der kratzt sich die Haare, hinten, unter der Kappe. Aus der Erinnerung weiß ich, dass er vorne keine mehr hat. Mein Blick mustert ihn abwärts wandernd. Er trägt das Oberteil einer Uniform aus dieser anderen, abgesetzten Science-Fiction-Fernsehserie. Eine Uniform, die der Hälfte von ihm gut gestanden hätte. Dort wo der Jacke gut fünf Zentimeter fehlen, sehe ich nur Bauch und Hosenträger. „Hübsche Uniform“, lüge ich und nicke.

Er starrt zurück. „Die haben mir die Wohnung aufgebrochen!“ Sein Gesicht hat gerade einen Sack Lieblingsmurmeln verloren. Also, zumindest sieht es sehr traurig aus.

„Oh“, sage ich. „Das … das tut mir leid!“

„Wieso, sind Sie etwa in meine Wohnung eingebrochen?!“ Ein verächtlicher Blick.

„Ich … nein, natürlich nicht! Warum sollte ich in Ihre Wohnung einbrechen?“

„Na vielleicht, weil die Welt untergeht und Sie jetzt Hunger haben? Hm?“

Ich schüttele den Kopf und lasse ihn dabei nicht aus den Augen. „Nee. Der Rewe an der Ecke …“, ich bewege den Kopf in Richtung Ecke, „… der hat ja noch auf. Und ich habe … Ich habe doch Krapfen. Die sind von da. Wollen Sie einen?“ Ich gestikuliere ihn in meine Wohnung. Irgendwie tut er mir jetzt leid, denke ich. „Hören Sie. Es tut mir leid“, sage ich.

„Ja.“ Er schaut mir nickend in die Augen.

„Hm?“, frage ich. Was?, denke ich.

„Ja.“, er nickt immer noch. „Ja, ich hätte gerne einen Krapfen.“

„Ah … okay“, sage ich. „Die waren im Angebot.“

Wir sitzen zu dritt am Tisch in der Küche. Auf der hohen, glänzenden Stirn meines Nachbarn aus dem Zweiten spiegelt sich das rote Licht wider, welches durch das Fenster hinter mir in den Raum fällt. Ich starre ihn an. Sie starrt ihn auch an.

Sein Blick starrt mich an.

„Wie bitte?“, frage ich.

Der Nachbar nickt jetzt nervös, zeigt mit dem Finger in unsere Richtung und wiederholt: „Sie reden nicht viel, oder?“

Meine Augenbrauen fahren nach oben. Ich blicke sie an.

Sie blickt mich an, verschränkt den Mund und zuckt die Achseln.

Wir reden nicht viel. Ehrlich gesagt haben wir uns in der Zeit, seit wir uns kennen gelernt haben, öfter erregt stöhnen als irgendwie reden gehört und ganz ehrlich halte ich diesen Punkt für die Geheimzutat in unserer aktuell blendend funktionierenden, noch wenige Tage alten Beziehung. Ich scheuche den Gedanken aus dem vorderen Teil meines Gehirns und versuche vom Thema abzulenken: „Haben Sie die Polizei gerufen?“, frage ich.

Er nickt bedächtig. „Ja.“ Er seufzt. „Die haben mich auf eine Liste gesetzt. Ich denke ich habe Glück und befinde mich unter den nächsten zweihundert Einbrüchen, denen nachgegangen wird“. Er seufzt noch einmal doller.

Ach, denke ich bei mir. Die Leute plündern also nicht, sondern begehen ganz klassisch Einbrüche. Krass.

„Sie gehen davon aus, dass sich eine lokale Einbrecherbande wohl die aktuelle Situation mit diesem … Ding …“, er zeigt mit dem Finger nach oben, „… zu Nutze macht. „Kein Scheiß, Sherlock.“

Dieses Ding, denke ich bei mir. Ich merke wieder, wie wenig ich über dieses Ding eigentlich wissen möchte. Vielleicht liegt es daran, dass mir diese Situation aktuell intensiven Sex beschert. Das Schicksal der Welt steht da in meinem Kopf etwas hinten an. Warum soll ich mich also fragen, was das da oben ist?

„Haben Sie sich schon einmal gefragt, was das da oben ist?“

Herrje.

„Und wie kann es da überhaupt so hängen? Das macht physikalisch gar keinen Sinn!“

Himmel.

„Langfristig kann das für unsere Erde nicht gut sein.“

Och.

„Zuerst spielt das Wetter verrückt und dann werden wir ausgerottet. Wie die Dinosaurier!“ Der Nachbar starrt mich auffordernd, sich nach Bestätigung sehnend, an. Ich reagiere lieber nicht und nehme mir einen Krapfen. Einen mit Erdbeer-Marmelade und Puderzucker.

„Bis dahin werden wir jeden Tag um unser Überleben kämpfen und am Ende wahrscheinlich sogar uns selbst essen müssen!“

Die mit Zuckerguss mag ich lieber, weil einem beim Essen nicht überall der Zucker an den Klamotten hängt.

„Ich bin Veganer!“

„Waff?“ Ich blicke auf und schlucke das letzte Stück des Marmeladen-Krapfens herunter.

„Ich bin Veganer. Ich esse gar kein Fleisch. Auch keine anderen Menschen.“

Ich überlege aufzustehen und danach zu googeln, ob irgendwo explizit steht, dass Veganer keine Menschen essen dürfen. Das gilt doch nur für tierische Produkte, oder?

„Ich habe keine Ahnung von Ackerbau. Schon gar nicht während das Ende der Welt naht!“

Ich gucke leer und nehme mir ganz langsam noch einen Krapfen, der natürlich nicht vegan ist.

Der Nachbar hatte sich die Woche frei genommen, um auf irgendeine Convention zu fahren. Heute morgen ist er dann wiedergekommen und fand seine Wohnung total verwüstet vor. Notebook, Tablet und Memory-Sticks wurden geklaut. Alles andere wurde aus den Regalen und Schränken gerissen und liegt nun wohl verteilt so rum und irgendwie ist wohl alles auch kaputt. Jetzt hat er nur noch die viel zu kurze Uniform und die Kappe, traut sich nicht mehr in seine Wohnung und … verdammt, ich könnte noch zehn von diesen Krapfen essen.

Sie ist mittlerweile gelangweilt aufgestanden und im Schlafzimmer verschwunden. Ich schaue seit dem an die geschlossene Schlafzimmertür. Ich sollte hinterher gehen. Ich sollte auch den Nachbarn wegschicken. Aber der hat ja kein „weg“ mehr. Die Situation mit ihm nervt mich gerade viel mehr, als die mit diesem … Ding da oben. „Ich, äh. Ich habe da hinten noch ein kleines, ungenutztes Zimmer. Wenn Sie wollen, können Sie dort erst einmal auf der alten Couch schlafen.“

Er spielt mit seinen Fingern, den Blick zum Boden gewandt. „Danke! Vielen Dank.“

Ich nicke stumm.

Es klopft von außen an der Schlafzimmertür.

Ich erschrecke leicht und öffne blinzelnd die Augen. Vor mir steht Ben Affleck in Jersey Girl. Nein, vor mir hängt Ben Affleck in Jersey Girl. Mit einem fetten Filzmarker hat irgendjemand „Go fuck yourself!“ auf das Poster geschrieben. Ich habe es damals trotzdem gekauft, weil es mich irgendwie ansprach. Und weil es wegen dem Spruch recht günstig war.

Es klopft nochmal.

Wieso klopft es? Ich überlege. Ach, denke ich bei mir: Der Nachbar. Ich blicke über meine Schulter zum Fenster. Rotes Licht. Ich lasse meinen Blick weiter in Richtung Wecker schweifen. Zehn Uhr. Gut, da ist ein Klopfen durchaus akzeptabel. Aber was kann er wollen? „Ja?“, frage ich verunsichert. Dann höre ich hastige Schritte näher kommen.

Er hatte offenbar schon aufgegeben und kommt jetzt wieder zurück. „Frühstück“, raunt es da durch die geschlossene Tür. „Ich habe Frühstück gemacht.“

Ich gucke leicht erstaunt. „Oh“, sage ich. „Danke. Wir, äh, sind gleich da!“

Ich schaue in ihr schlafendes Gesicht und beobachte sie einige Zeit, bringe es aber nicht wirklich übers Herz, sie zu wecken.

Ein paar Minuten später verlasse ich das Schlafzimmer und betrete den Wohnraum. Er ist leer. Bis auf den großzügig gedeckten Frühstückstisch. Spiegeleier, knusprig gebratener Speck, dunkelbraun geröstete Würstchen, Brötchen, leckere Krapfen! Offensichtlich geht der Bäcker noch seinem Geschäft nach. Auf der Anrichte, unter einem Daredevil-Poster mit Ben Affleck drauf, liegt ein fremdes, vor allem aber nagelneues iPhone und lädt friedlich vor sich hin. Ich muss an mein vier Jahre altes Modell denken und schaue dabei neidisch aus der Wäsche. Es wird wohl dem Nachbarn gehören. Eben hat er doch noch verlegen an unsere Schlafzimmertür geklopft, jetzt ist er aber nirgends zu sehen. Seltsam. Gedeckt ist auch erst für zwei. Ich bin etwas verwundert, vertreibe das Gefühl aber schnell mit einem großzügig mit Erdbeermarmelade gefüllten Krapfen. Ich kaue genüsslich auf dem Teig, der sich in meinem Mund zu einem Ball aus Marmelade und Zucker formt und erst dann entdecke ich die absolut sehr unsichere, offene Wohnungstür. Doof. Die soll nicht offen stehen! Weiß man ja nie, was da draußen noch so rumläuft. Ich nehme mir also einen weiteren Krapfen und mache mich auf, die Tür zu schließen.

Vorsichtig werfe ich noch einen Blick nach draußen. Das Treppenhaus ist leer und es ist totenstill. „Hallo?“ Ich flüstere nach meinem Nachbarn, aber es reagiert niemand. Neugierde ist keine meiner regulären Eigenschaften, warum also kommt sie ausgerechnet jetzt auf? Ich verfluche mich und beginne, die Treppe nach oben zu steigen. Es ist weiterhin sehr still, bis auf meine vorsichtigen Schritte auf der knarrenden Holztreppe. „Hallo?“, rufe ich jetzt etwas lauter. Immer noch nichts. Ich erreiche den zweiten Stock und spähe vorsichtig um die Ecke. Die Wohnungstür meines Nachbarn steht ebenfalls weit offen. Aha. Dort, wo eigentlich ein Schloss sein sollte, befindet sich nur noch ein wunderschönes Loch. Ich wage einen Blick hinein in die Wohnung und sehe … nichts. Der kleine Flur ist sehr übersichtlich eingerichtet. Auf einem Holzstuhl liegen diverse Schlüssel an einem Rentier-, Elch- oder Karibu-Schlüsselanhänger und ein Feuerzeug mit dem Vornamen meines Nachbarn drauf. In der Ecke steht ein Mülleimer mit einem Aufdruck von Captain Janeway aus Star Trek Voyager. Ein darüber an der Wand hängendes Poster, zeigt Jean-Luc Picard, der sich die Hand vors Gesicht hält. Eigentlich ein Zeichen, dass er irgendetwas so gar nicht fassen kann. Aktuell bilde ich mir ein, er wolle nicht hinsehen, was gleich passiert. Mir fällt ein, dass ich zu Panik neige und verfalle auch sogleich in selbige. Trotzdem wage ich einen Blick ins einzige Zimmer der Wohnung. Warum, weiß ich nicht, aber ich hasse mich sogleich dafür. Die Besitztümer meines Nachbarn liegen unordentlich und teilweise zerstört überall auf dem Boden herum. DVDs und Blu-rays bilden an verschiedenen Stellen des relativ großen Zimmers kleine bis mittelgroße Türmchen oder sie bedecken den Fußboden. Ich atme tief durch. Was denn jetzt noch? Was mag sich, angezogen von diesem … Ding am Himmel, hier in der Wohnung versteckt halten, was jetzt hinter irgendeinem umgestoßenen Möbelstück auf mich lauert? „Hallo?“, flüstere ich leise. Ich bin plötzlich wieder acht Jahre alt. Monster gibt es nicht, kriege ich gerade von meinen Eltern eingebläut. Stell dich nicht so an! Monster gibt es nicht. Aber …! Nichts aber! Monster gibt es nicht. Punkt. Aus. Basta. Als Kind las ich von einem anderen Kind, das immer sang, wenn es in den dunklen Keller gehen musste. Singen hat es bei mir aber immer noch schlimmer gemacht. Dann fürchtete ich mich vor den Monstern im Keller und den Liedern, die ich kannte. Die Titel-Melodien von „Die Strandpiraten“ oder „Ein Colt für alle Fälle“ waren dann immer wie weggeblasen. Dafür drängten sich Lieder über Hexen, Kannibalen und Kindermörder nach vorne. Lieder, die ich auf Klassenfahrten und Ferienausflügen am Lagerfeuer gelernt habe. Super. In meinem Kopf gab es also Monster. Obwohl mir stetig versichert wurde, dass es auch dort keine geben sollte und dass es, falls doch, sehr gute Medizin dagegen gäbe.

Riesige Meteore, die in der Atmosphäre hängen und das Klima durcheinander bringen sollte es übrigens auch nicht geben. Da wackelt die Theorie mit den nicht existierenden Monstern schon ein wenig, wie ich finde. Vielleicht muss die Sache mit den Wesen unterm Bett ja doch noch einmal neu untersucht werden. Ich will gerade anfangen, das Thema von „Ein Trio mit vier Fäusten“ zu summen, als ich ein leises elektronisches Brummen vernehme, das scheinbar vom nicht richtig geschlossenen Kühlschrank neben einem großen schwarzen Ledersofa ausgeht. Mist. Die Prioritäten meiner elterlichen Erziehung lagen genau da: Offene Kühlschränke durften dies nur maximal zehn Sekunden sein. Die hatten ja nix, die Eltern.

Heute werde ich deswegen schon nervös, wenn ich nach fünf Sekunden noch nicht die Butter gefunden habe. Man könnte sagen, ich bin, was das angeht, traumatisiert. Ich bewege mich durch den Raum und etwas knackt unter meinem linken Fuß. Unter mir liegen die Plastikscherben der „Gesprengte Ketten“-DVD-Hülle. (Mist. Guter Film, denke ich bei mir). Ich zerstöre auf dem direkten Weg zum Kühlschrank noch ganz vorsichtig die Hüllen von Ben Afflecks „The Town“ (Nein!), und „Akte X“ (die mit dem großen Mutato!) und komme kurz vor dem Ziel auf irgendwas mit Nicholas Cage zum Stehen (Glück gehabt!). Ich versuche die Kühlschranktür für meinen inneren Frieden zu schließen. Geht aber nicht. Irgendwie klemmt sie. Ich halte die Luft an und mache die Tür weit auf, um nachzusehen, warum sie klemmt. Es kracht und ich erschrecke, als eine Flasche Tomatenketchup vor meine Füße fällt. Sie zerschellt nicht. Ich atme auf, blicke nach rechts zu einem Plakat von irgendeinem der gefühlt zwanzig Doktoren aus der Fernsehserie Dr. Who und frage mich kurz ob Nicholas Cage auch schon dazu gehört. Nee, noch nicht. Ich stütze mich auf die Lehne des Sofas, blicke mich um und erblicke den Nachbarn, der hinter dem Möbelstück seltsam blass und verrenkt auf dem Boden liegt. Auf seiner Stirn klafft eine offene, kreisrunde Wunde. Hinter ihm auf dem Fußboden und auf der Hülle der Uncut Special Edition von David Cronenbergs „Scanners“ hat sich sein Gehirn auf dem Fußboden verteilt.

Normalerweise sollte ich jetzt panisch die Flucht ergreifen. Ich sollte Hals über Kopf durch die Wohnung rennen, mich an diversen Ecken und Kanten verletzen und dabei laut schreien oder zumindest etwas stammeln. Normalerweise sollte ich dann irgendwann anhalten, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, zitternd in die Knie sinken und mir dabei wimmernd die Hände vor den Mund halten. Ich würde dann vor Angst heulen, würde immer wieder schluchzend „Nein, nein, nein!“ sagen und der Schnodder würde ein Netz zwischen meinen Fingern und der Nase bilden, wie das einer Spinne im Morgentau. Die Panik würde mich verrückt machen, solange an mir nagen, bis ich mich endlich und mit vollem Eifer in den Captain Janeway-Mülleimer übergeben würde. Der Schock, würden sie dann sagen. Normalerweise.

Normalerweise liegt der Nachbar aber auch nicht neben seinem Gehirn und hinter dem Sofa. Also bleibe ich erst einmal ruhig und beiße in einen weiteren Krapfen, den ich mir vorsorglich als Proviant aus meiner Wohnung mitgenommen habe.

Ich sinke, mit dem Rücken an die Wand im Flur gelehnt, langsam in die Knie und spucke in den Captain Janeway-Mülleimer neben mir. Pflaumenmus mag ich nicht.

„Nein, ich bin völlig ruhig“, erwidere ich auf ihre Frage, ob ich einen Schock hätte, während ich mit dem linken Bein wippe als wäre es direkt mit einer Steckdose verbunden und dabei immer wieder nervös mit einem personalisierten Feuerzeug herumspiele, das nicht meinen Namen trägt. Mit der anderen Hand spiele ich mit meinem nagelneuen iPhone, für das mir partout nicht der vierstellige Passcode einfallen will. Ob ich mich nicht lieber hinlegen möchte, fragt sie mich. Ich ignoriere sie. Irgendwas mit Star Trek, Star Wars, Babylon oder dieser anderen Science-Fiction-Serie müsste es bestimmt sein. Ein vierstelliger Code, der etwas mit Science-Fiction zu tun hat. Ich probiere 1977. Fehlanzeige. Ich google am Notebook den Stapellauf der ersten Enterprise: 2151. Aha. Ist es aber auch nicht. Wieviele Episoden gab es eigentlich von Star Trek? War das schon vierstellig? Nee. Ich … „Was?“

Wo ich das Telefon denn her hätte, fragt sie mich und guckt dabei vorahnend skeptisch.

Das lag hier.

Es dämmert ihr und ihre Kinnlade fällt herunter.

Schon süß. Sie schreit mich an und ich bekomme direkt ein schlechtes Gewissen. Aber warum? Der Nachbar braucht nun ja wohl kaum mehr noch ein Telefon, oder?

Sie starrt mich ungläubig an.

Wir haben vor einer Stunde angefangen deutlich mehr miteinander zu reden als üblich und schon geht es mit unserer Beziehung bergab. Na toll. Ich hole tief Luft. Mein Telefon ist vier Jahre alt und er braucht keins mehr. Da ist es ja wohl legitim, mir das iPhone zu nehmen, welches auf meiner Anrichte in meinem Wohnzimmer so vor sich hin lädt und von dem ich nicht einmal wirklich weiß, ob es denn überhaupt seines ist!

Sie lacht fassungslos eine Lache, die irgendwo zwischen Überraschung und Abscheu anzusiedeln ist.

„Wir existieren doch derzeit in einer Ausnahmesituation“, sage ich. Wer weiß, was da alles nicht mit rechten Dingen zugeht. Womöglich … oh.

Sie ist jetzt wirklich richtig böse.

Ich lege das iPhone vorerst zur Seite, stehe auf und gehe an ihr vorbei in die Küche. Ein Toastbrot mit einer Scheibe Käse sollte genug Zeit schinden, um die Situation zu beruhigen. Ich entscheide mich für den Dreikorn-Toast mit dem Fitness-Versprechen (in Zeiten wie diesen ist Fitness sicherlich nicht schlecht), drücke die Taste am Toaster herunter und suche im Kühlschrank eine Scheibe Käse, die sich dort verdammt gut zu verstecken weiß. Ich werde ob der offenen Kühlschranktür leicht nervös. Nachdem auch Wurst, Marmelade und dergleichen zu fehlen scheinen, fällt mir wieder ein, dass der Nachbar ja Frühstück gemacht und den Tisch damit gedeckt hatte. Verdammt. Ich muss wieder an ihn und das Loch in seinem Kopf denken. Wie er so da oben in seinem Gehirn liegt. Währenddessen verbrennt mein Toastbrot.

Nee, tut es gar nicht. Aber es riecht verbrannt. Warum riecht es verbrannt? Ich gehe neugierig zur Küchentür und schaue vorsichtig ins Wohnzimmer hinaus. Aus meinem nagelneuen Mülleimer mit Captain Janeway drauf, steigen Rauch und kleine Flammen empor. Auweia, denke ich bei mir. Die ist tatsächlich richtig sauer. Und bloß wegen dem blöden iPhone. Ich blicke hinüber zur Anrichte, wo ich das besagte Gerät vor gut einer Minute abgelegt habe. Es liegt dort bloß noch das Ende des Ladekabels. In diesem Moment schießt ein gleißender Blitz aus dem Mülleimer gut einen Meter in die Höhe und signalisiert mir deutlich, dass jede Hilfe für mein neues Telefon zu spät kommt. Ach menno!

Ich nicke zufrieden, als ich die von innen zusätzlich mit vier großen Brettern vernagelte Sicherheitstür meiner Wohnung betrachte. Dann stutze ich und einen Augenblick später beginne ich, unter ihrem hämischen Blick (sie steht mit in die Seiten gestemmten Armen neben mir) sicherheitshalber die gesamte Tür von innen großflächig mit weiteren Brettern zu vernageln, was gut zwanzig Minuten dauert.

Sie schüttelt ungläubig den Kopf.

Schüttelt sie ihn wieder oder immer noch? Egal. Ich muss hier nicht mehr raus! Meine Augen funkeln ob der Genialität meines Plans. Ich kann gut eine Woche von Toast und Käse leben. Und wenn wir die erst einmal überstanden haben, sind wir wahrscheinlich eh in Sicherheit.

Es wird ja niemand eine Woche vor meiner Wohnungstür ausharren und darauf warten, dass die endlich mal wieder aufgeht. Ich blicke mich um und suche die Fernbedienung für den Fernseher. In freudiger Erwartung der nächsten sieben Tage. In Sicherheit. Sie ist im Schlafzimmertür verschwunden. Ich halte es für sinnlos ihr zu folgen und entscheide mich, erst einmal fern zu sehen. Ich mache es mir auf dem Sofa gemütlich und schalte den Fernseher ein. Im ZDF sitzen Til Schweiger und Jan Joseph Liefers in irgendeiner Spielshow über Tiere. Ich schlafe sofort ein.

In den folgenden zwei Stunden werde ich unsanft aus dem Schlaf gerissen, es werden diverse, folgenschwere Entscheidungen gefällt, zwei Diskussion über die nahe Zukunft und warum Krapfen damit überhaupt nichts zu tun haben geführt und eine Tür aufgebrochen, die zuvor zwar großflächig, aber zugegebener Maßen auch sehr dilettantisch verbarrikadiert wurde. Am Ende verlassen wir die Wohnung und machen uns auf in Richtung Straßenbahn. Der Klügere gibt nach.

Drei

Vor einer Videothek im Stadtteil Hannover Vahrenwald steht ein älterer, in schwarz gekleideter, glatzköpfiger Mann und schaut ziemlich grimmig drein. Er trägt militärische Montur und es wirkt, als wäre er soeben links neben sich aus dem Expendables-Plakat gestiegen. Ein vorbeikommendes Pärchen sieht das genauso und kichert hinter vorgehaltenen Händen. Der Glatzköpfige schaut ruckartig zu den beiden Frauen hinüber und verharrt bedrohlich in seiner Bewegung. Sie erschrecken sich und beschleunigen ihren Schritt. Er schaut ihnen noch einige Sekunden hinterher, bevor er wieder den Hauseingang auf der anderen Seite der Straße beobachtet. Dabei kaut er etwas, bevor er Reste davon ziemlich unflätig auf den Gehweg spuckt. Eine schwarze Limousine mit verdunkelten Scheiben rollt im Schritttempo die Straße entlang und kommt direkt vor dem Mann sanft zum Stehen.

Wir wollen gerade die Straße überqueren, als eine schwarze Limousine im Schritttempo die Straße entlang rollt und direkt vor uns sanft zum Stehen kommt.

Ich versuche mit einem spontan aufgezogenen leeren Blick das Innere des Wagens auszumachen. Aber da ist alles bloß schwarz. Schwarzer Wagen, schwarze Scheibe, schwarze Sterne. Schwarze Sterne? Noch bevor ich mich so richtig über die Sterne wundern kann, gleitet mein Körper, motiviert von einem sehr starken Schmerz an meinem Hinterkopf in eine handfeste Ohnmacht.

Wenn ich träume, träume ich richtig krassen Scheiß. Ich verarbeite diverse Erfahrungen des Tages zu neuen, in sich nicht immer ganz schlüssigen Traumsequenzen. Oft sind die so unglaublich bescheuert und stressig, dass ich ziemlich unruhig schlafe und irgendwann genervt davon aufwache. Dann bin ich meistens so kaputt, dass es mir vorkommt, als hätte ich gar nicht geschlafen. Das ist doof, weil ich dann ziemlich schlechte Laune habe. So schlechte Laune, dass ich mich dann selbst verabscheue. Deshalb analysiere ich jeden Morgen nach dem Aufwachen und noch vor dem Öffnen meiner Augen, ob ich wieder geträumt habe und wenn ja, ob es nicht vielleicht besser wäre, einfach noch einmal einzuschlafen. Eine dem eigenen Wohlbefinden sehr zuträgliche Methode, aber auch ein echter Dorn im Auge vieler Arbeitgeber.

Ich wache auf und checke also erst einmal die Traumlage. Glück gehabt! Ich habe nicht geträumt. Dummerweise schmerzt mir der Schädel so unbeschreiblich stark, dass ich trotzdem richtig scheiße drauf bin. Ich öffne die Augen und erkenne schemenhaft einen kleinen, schwarzen Raum mit schwarzer Einrichtung und einer roten Decke. Wo bin ich? Mein Nacken fühlt sich feucht an. Ich taste mit meiner Hand hinter meinen Kopf und fasse in etwas Klebriges, das, als ich mir die Hand prüfend unter die Nase halte, irgendwie metallisch riecht. Meine Augen gewöhnen sich langsam an das Licht im Raum. Vor mir sitzt jemand. Eine Frau. Sie trägt einen schwarzen Anzug und darunter eine weiße Bluse, die zu ihren schneeweißen, mittellangen Haaren passt. Ich muss an eine Hexe denken. Im orangefarbenen Licht wirkt ihr Haar wie die billige Perücke einer Prostituierten in diesem einen Film mit Julia Roberts. Sie lächelt freundlich durch eine dick gerahmte Brille hindurch. Die Falten um ihre Augen verraten, dass sie älter ist, als ihr sportlicher Körperbau vermuten lässt. Neben ihr sitzt ein glatzköpfiger Mann, der aussieht, als hätte ihn Sylvester Stallone für den nächsten Expendables-Film verpflichtet. Er hält eine Pistole in der Hand und beäugt mich, als wolle er mir jeden Moment an den Hals springen.

„Ich hätte ihn gleich erschießen sollen“, bemerkt er abfällig, ohne den Blick von mir abzuwenden.

Die Pistole zeigt mir jetzt direkt ins Gesicht. Die Hexe schiebt sie am ausgestreckten Arm des Glatzköpfigen nach unten und aus meinem Gesicht heraus. „Du erschießt ihn erst, wenn ich es dir sage“.

Das beruhigt mich nur teilweise.

Ihr Blick ist für eine Sekunde eiskalt, bevor sie mich wieder freundlich anlächelt.

„Wer … wer sind Sie?“, stammele ich und bemerke erst jetzt, dass wir in einem Auto sitzen. Bestimmt die schwarze Limousine. Wir stehen. Draußen kann ich dunkel Hannover erkennen. Es ist nicht besonders hübsch. Ich starre in meine Hand, die vom Blut an meinem Hinterkopf verklebt ist.

Sie schaut erst auf das Blut und dann auf mich. „Bitte entschuldige sein brutales Vorgehen“, sagt sie. Ihr Kopf knickt leicht zur Seite, als würde sie mit einem Kind oder einem Hund reden. „Wenn man ihn nicht an der kurzen Leine hält, beißt er alles und jeden.“

Ich nicke und finde mich dafür ein bisschen doof. „Wer … wer sind Sie? Was … wollen Sie?“, frage ich sichtlich eingeschüchtert.

Die Hexe kippt den Kopf leicht zur anderen Seite. „Glaubst du an Karma?“, fragt sie.

Ich starre sie an und kann bloß „Was?“ sagen.

Sie zeigt nach oben. „Ich glaube, dass das da oben, dieses … Ding, mein Karma ist. Glaubst du an Karma?“

Ich runzle die Stirn und denke zu meiner eigenen Überraschung ernsthaft über diese Frage nach. Ich muss daran denken, dass ich dazu eine Expertenrunde im Fernsehen gesehen habe, die übernatürliche Kräfte nicht ganz ausgeschlossen hat. Oder war das die Theorie mit dem Fehler im Maya-Kalender? Hm. Ich habe nie richtig über irgendeine höhere Macht nachgedacht und so richtig Lust, jetzt damit anzufangen, habe ich auch nicht. Aber neugierig bin ich jetzt schon. „Was … was hat denn das Karma gegen sie?“, frage ich und blicke der Hexe erwartungsvoll in die Augen. Irgendetwas schlüssiges wäre jetzt schön, denke ich.

Sie lächelt. „Geld, Geld, Geld und noch mehr Geld. Man bekommt nicht genug davon, weißt du?“

Ich nicke bedächtig, denke dann darüber nach und schüttele den Kopf. Ich muss an eine frische Tube Nasenspray denken. Mein Nacken schmerzt und ich merke, wie kalter Schweiß auf meiner Stirn entsteht.

Sie räuspert sich und ihre Hand gleitet auf mein eines Knie.

Ich zucke zusammen, woraufhin sie anfängt das Knie zu streicheln. Ich sehe, wie der Glatzköpfige die Augen verdreht.

Er wirft den Kopf genervt in den Nacken und richtet den Blick durch das verdunkelte Fenster nach draußen auf die Straße.

Erst jetzt bemerke ich die Musik im Inneren des Wagens: Phil Collins singt „In The Air Tonight“. Ich überlege was eigentlich schlimmer ist? Zu Phil Collins von einem glatzköpfigen Sadisten erschossen zu werden oder zu Phil Collins mit einer Hexe schlafen zu müssen. Oder beides und nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. Zu Phil Collins!

Ihr Griff an meinem Knie wird stärker.

„Du hast etwas, was mir gehört. Und für den Fall, dass das da oben nicht mein Karma ist und lediglich ein paar tausend unwichtige Menschenleben kosten wird, hätte ich es jetzt gerne wieder zurück. Wenn du es mir gegeben hast, sprechen wir über deinen Preis.“ Ihre Stimme klingt sehr einfühlsam. Sie lehnt sich langsam vor und blickt mir tief in die Augen. „Gib es mir einfach, bevor ich ihm sage, dass er deine Finger abschneiden soll. Einen nach dem anderen. Ganz langsam. Wir beide hier haben wirklich viel zu verlieren, weißt du?“ Ihr Finger wandert verspielt zwischen ihr und dem glatzköpfigen Rottweiler hin und her.

Es gelingt mir nicht, irgendeinen weiteren klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf schmerzt. Ich kann bloß noch stammeln. „Wa-was denn geben?“ Der Schweiß auf meiner Stirn bildet erste Pfützen in Falten und Grübchen.

Die Hexe lehnt sich zurück und holt tief Luft durch die Nase. Dann zeigt sie mit dem Finger an die rote Decke. „Die Nobunaga-Dateien. Komm schon, es wird da draußen etwas unbequem.“

Nobu-was!?, denke ich.

Sie verdreht ihren Hals, ohne den Blick von mir abzuwenden, während ihre Hand an meinem Oberschenkel aufwärts wandert. „Komm schon, gib sie mir!“

Meinen Körper in die Rückbank gepresst, starre ich auf ihre Hand vor meinem Gesicht die sich wie eine Blüte ganz langsam öffnet.

Mir ist schlecht. „Nobu-wer?“, stammele ich nochmal.

Ihre Finger machen jetzt eine fordernde Bewegung.

Ich glaube, ich habe eine Gehirnerschütterung.

Etwas Kaltes berührt meine linke Schläfe. Ich drehe mich vorsichtig nach links und blicke an der Pistole vorbei in das Gesicht des Glatzköpfigen, der ausschaut, als würde er mich jetzt gerne anspringen und einfach so zerfleischen.

Ich öffne den Mund, um irgendwas zu sagen, als mich das schwere Gehäuse der Waffe wuchtig an der Schläfe trifft und diese daraufhin vor Schmerzen explodiert. Alles verschwimmt vor meinen Augen. Die Hexe, ihre Hand und die rote Decke. Alles scheint nur noch unscharf im Raum zu schweben. Ich muss würgen und kotze gleich darauf ein gutes Dutzend halbverdaute Krapfen vor mir in das Wageninnere.

Ich huste noch ein paar letzte Stückchen von Irgendwas auf meine Schuhe und wische mir dann mit dem Handrücken den Mund sauber. „Ah“, sage ich, angeekelt von mir selbst. Dann halte ich inne und den Atem an.

Vor mir sitzen die Hexe und der Glatzköpfige, beide von oben bis unten vollgekotzt. Von mir vollgekotzt. Phil Collins holt noch einmal tief Luft, um nach dem Trommelwirbel wieder so richtig einzusteigen, als der Glatzköpfige aufspringt, mir den Pistolenlauf unsanft und erschreckend tief in den Mund rammt und ich seine gebleckten Zähne dicht an meinem Gesicht aufblitzen sehe. Ich kann Reste von meinen Krapfen erkennen.

In diesem Moment ertönt ein ohrenbetäubender Krach. Über uns reißt die Decke der Limousine auf und rotes, blendendes Licht strömt herein, als sich eine riesige, glänzende Klinge in das Wageninnere bohrt und mitten durch die von mir vollgekotzte Hexe fährt.

Der Lauf der Waffe verlässt hastig meinen Mund.

Es ist plötzlich sehr still geworden. Auch Phil Collins hat aufgehört zu singen, was prinzipiell ja schon mal eine Verbesserung ist. Die gesamte Limousine scheint verbogen zu sein. Die Scheiben sind allesamt zerborsten und die von der riesigen Klinge zerteilte Hexe hat der Inneneinrichtung auf ihrer Seite des Wagens einen verschmierten Anstrich verpasst. Es riecht nicht gut und ich zittere am ganzen Körper. Die Tür links von mir ist offen, aber ich schaffe es nicht mich dorthin zu bewegen. Wo ist der Glatzköpfige? Ich suche das Wageninnere mit halbzugekniffenen Augen ab und versuche dabei nicht zu viel von der toten Hexe zu sehen. Es gelingt mir nicht. Ich möchte schreien, doch mir fehlt die Kraft. Ich überlege, mal so richtig loszuheulen. Oder noch mal zu kotzen. Ich kann aber bloß würgen. Dann werfe ich mich mit letzter Kraft gegen die Tür und falle mit ihr hinaus auf die Straße.

Mit dem Rücken auf dem Gehweg liegend, spüre ich, wie sich Glasreste in mich hineinbohren und es mir scheißegal ist. Ich schließe die Augen und freue mich einfach nur zu liegen. Gerade will ich mich fragen, wo sie eigentlich die ganze Zeit über steckt, als ihre Hand nach mir greift und mir hoch hilft. Es scheint ihr gut zu gehen. Ich merke, wie ich mich freue, sie zu sehen. Aber sie hetzt mich bloß. Dann fällt mir der Glatzköpfige wieder ein. Ich drehe mich ruckartig um und blicke auf den völlig zerstörten Wagen, der unter so etwas wie einem Satelliten eingeklemmt ist. Eines der Sonnensegel steckt in der Limousine. Und in der Hexe. Ich blicke nach oben in den brennenden Himmel. Dann kugelt sie mir plötzlich fast die Schulter aus, als sie mich ruckartig in Richtung der Straßenbahnhaltestelle zieht. Wir laufen los. Oder besser: Sie läuft. Mein Kopf schmerzt so dermaßen, dass ich mich bloß hilflos an einem Arm hinterher ziehen lassen kann. Ich würde jetzt doch gerne noch einmal richtig kotzen.

Wir springen in den letzten Wagen der Stadtbahn. Ich will bloß noch weg hier. Weg von der Limousine. Weg von der Wohnung meines Nachbarn. Und weg vom toten Nachbarn. Erstmal nur weg. Als die Bahn die oberirdische Strecke verlässt und in den Tunnel unter die Stadt taucht, wechselt sich das rote Licht der Umgebung mit dem vergilbten Licht der Innenbeleuchtung ab. Mir fällt auf, dass diese Tunnel einige der wenigen Plätze sind, wo nicht von irgendwoher das rote Licht dieses … Dings hinein scheint. Ich merke, wie mich das etwas entspannt … um gleich darauf wieder angespannt zu sein. Ich fühle mich eingesperrt. Diese Enge der überfüllten Bahn, voll mit Menschen, die sich vielleicht ebenfalls nach einem Platz ohne das rote Licht gesehnt haben. Ich blicke nervös um mich. Zombies. Überall Zombies. Dazwischen sitzen oder stehen Missionare für irgendeinen Gott mit Schildern auf denen Dinge wie „Jesus rettet“ oder „Gott hat seine Gründe“ stehen. Offensichtlich ist man sich auch da noch nicht so ganz einig, wie die Situation denn nun ausgehen wird. Am anderen Ende des Wagens steht eine junge Frau mit einem schwarzen Tanktop, auf dem oben ein Teil eines flammenden Meteors aufgedruckt ist. Darunter steht in weißer Schrift „Goodbye, my love!“. Ich befinde mich wohl in bester Gesellschaft für eine ordentliche Panikattacke, beruhige mich aber mit dem Gedanken an die Pistole, die ich zu meiner eigenen Sicherheit von Omar Sharif auf dem Spielplatz gekauft habe. Dann bemerke ich, dass ich sie zuhause in der Schublade mit der Unterwäsche habe liegen lassen. Anton Tschechow dreht sich in seinem Grab vermutlich gerade wie ein Kreisel um die eigene Achse. Na toll.

Sie sagt die ganze Zeit nichts. Ich frage mich, ob das bedeutet, dass sich unsere Beziehung jetzt wieder auf dem Weg der Besserung befindet. Ich krame mein vier Jahre altes iPhone hervor, weiß dann aber nicht so recht, wonach ich darauf gucken soll. Also starre ich schlicht geradeaus durch den Wagen und zähle mal langsam so bis zehn. Ich komme lediglich bis zur Drei, denn … am anderen Ende des Ganges steht der glatzköpfige Rottweiler und kommt jetzt langsam aber sicher, Schritt für Schritt, auf uns zu. Mein ganzer Körper ist plötzlich fest angespannt. Ich blicke nervös um mich. Wir befinden uns bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof, als er plötzlich inne hält, mich regungslos anblickt, mit der rechten Hand eine Haltestange fest umklammert und mit der Linken, ohne den Blick von mir abzuwenden, den Nothalt betätigt.

Ich falle.

Ich vernehme irgendwo in der Ferne ein leises Klingeln. Es klingt wie eines dieser wunderschönen Holzwindspiele, die auf Balkonen hängen und angenehm leise in verschiedenen Tonlagen klimpern, wenn der Wind durch sie hindurchweht. Kling, Klang. Kling, Klang, Klong. Ich versuche auszumachen, aus welcher Richtung das Geräusch kommt, aber es gelingt mir nicht. Stattdessen höre ich irgendwo eine Drossel zwitschern. Schön, denke ich bei mir und suche den Singvogel. Ich bemerke, dass ich auf einer gemütliche Bank neben einem Starbucks-Kaffeebecher sitze, sehe aber weit und breit die kleine Drossel nicht. Doch, da … nein, Moment. Ich höre jetzt eine Krähe! Lauter und auch irgendwie etwas stressiger. Jetzt hätte ich doch gerne die Drossel wieder. Da! Es klingelt wieder! Aber Moment, es ist viel lauter als vorher. Ich wundere mich sehr über das Geräusch, als Omar Sharif, der echte, mit einem Fahrrad vorbei radelt und wie wild mit seiner Fahrradklingel Lärm macht. Ich blicke ihm verdutzt hinterher. Ist der nicht schon lange tot?, denke ich hei mir. Und hatte er gerade wirklich eine Uniform aus dieser einen Science-Fiction-Serie an? Krass. Erst jetzt bemerke ich vor mir das Meer. Ein dicker Seehund bellt lauter als die Klingel des Fahrrads und klatscht sich dabei mit den Vorderflossen selbst Beifall. Jetzt wundere ich mich ja schon ein wenig über all das hier, als plötzlich das Seehundbellen von einer Autohupe, irgendwo hinter mir, übertönt wird. Ich erschrecke stark und will dem Fahrer der schwarzen Limousine, der eine erschreckende Ähnlichkeit zu Phil Collins aufweist, den Finger zeigen, als sich vor mir von links ein riesiges Containerschiff mit der Aufschrift „Nobunaga“ in mein Sichtfeld drängt. Sein abartig lautes Nebelhorn übertönt alle anderen Geräusche und weckt mich aus der Sekunden-Ohnmacht.

Das Quietschen der Bremsen ist so laut, dass meine Ohren taub sind und fiepen. Ein Koffer ist hinter mir gegen meine Wade geflogen. Es schmerzt unglaublich. Ich suche nach ihr und sehe auch den Glatzköpfigen nicht mehr. Die Türen öffnen sich und Menschen stürmen panisch aus der Bahn, hinein in den Bahnhof. Ich werde drei-, viermal hart an den Schultern angerempelt, während ich versuche, mich gegen den Menschenstrom zu ihr durchzuschlagen. Wo zur Hölle ist der Glatzköpfige, der den Nothalt betätigt hatte?, denke ich, als mir jemand einen kräftigen Schlag an den rechten Oberschenkel versetzt. Ich blicke verwundert nach unten und sehe Blut an meiner Hose. Ein Mann meines Alters im grauen Business-Anzug schaut verblüfft zuerst auf mein Bein, dann auf mich. Dann dreht er sich einmal fast um die eigene Achse und fällt schreiend um. Auch er blutet. Entsetzt blicke ich nach vorne in die Bahn. Der Glatzköpfige steht mit ausgestrecktem Arm und seiner Waffe in der Hand da, setzt sich in Bewegung und kommt jetzt entschlossen auf mich zu. Er schießt. Ich höre nichts. Er trifft mich nicht nochmal, ich fange an zu zittern und möchte schreien, als mich von links zwei Hände packen und ich aus der Bahn auf den Bahnsteig gezogen werde. Sie zieht mich hoch, stützt mich ab und rennt mit mir ins Bahnhofsinnere. Ich weiß nicht, wie mir geschieht und als ich eine leise Ahnung davon bekomme, setzt der beißende Schmerz ein und erneut überkommt mich unfassbar große Panik. Die Wunde in meinem Bein brennt bei jedem Schritt wie Feuer. Ich schreie und sie flucht, als sie mich mit aller Kraft die Rolltreppe hoch nach draußen treibt.

Oben angekommen breche ich zusammen und übergebe mich erneut. Dieses mal auf meine Hose, die Schuhe und den Bahnhof. Fuck, denke ich, „SCHEISSE!“, schreie ich.

Die Situation ist ernst, sagt sie. Ich weiß! Natürlich ist die Situation ernst. Ich habe eine scheiß Kugel im Bein! Plötzlich laufe ich wieder. Der Schmerz ist nach wie vor da, aber irgendwo auf einer Ebene, die meinem Gehirn gerade echt egal ist. Wir laufen nach draußen bis zum großen Bahnhofsvorplatz, als wir abrupt stehenbleiben und über uns in die Luft starren. Dieses … Ding ist jetzt irgendwie verdammt dicht über uns. Ein extrem lautes Knirschen lässt uns beide nach rechts herumfahren, wo in diesem Moment die Spitze des Fernsehturms an dem riesigen Feuerball wie ein morscher Ast abknickt und brennend in sich zusammen fällt. Entsetzt sehen wir mit an, wie der Busbahnhof und ein Einkaufszentrum von den Trümmern begraben werden. Es ist dermaßen laut, dass meine Ohren, die sich gerade wieder so ein bisschen erholt haben, schlagartig wieder taub sind. Ich schaue mich um, ob in unserer Nähe weitere Gebäude drohen auf uns einzustürzen, als ich weiter vorne an einem Treppenaufgang wieder den Glatzköpfigen stehen sehe. Auch er starrt kurzatmig dort rüber, wo vor fünf Minuten noch ein Busbahnhof stand, dreht dann aber den Kopf in unsere Richtung und schaut uns extrem schlecht gelaunt an.

Klimax

Meine Nase ist zu, ich bin voll mit Kotze und Blut und irgendwo kleben sicherlich auch menschliche Überresten an mir. Ich habe eine Kugel im Bein und irgendwie glaube ich, ich habe mir was gebrochen. Irgendwas. Bestimmt! Außerdem merke ich, das ich so richtig müde werde. Das rote Licht taucht den Platz in ein merkwürdig anmutendes Bild. Ich atme schwer. Meine linke Hand ist zu einer Faust geballt, in meiner rechten halte ich ihre Hand. Der Glatzköpfige steht uns mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung im Gesicht, einige Meter entfernt, gegenüber. Zwischen uns wehen Zeitungen, Blätter und Müll durch die Luft. Überall schreien Menschen und in der Ferne donnern Explosionen, die uns regelmäßig zusammenzucken lassen. Ich merke, wie mein Hass dem Glatzköpfigen gegenüber meine Furcht vor ihm übersteigt.

Er schreit irgendwas sehr laut, aber ich verstehe nicht was. Die Schusswunde in meinem Oberschenkel meldet sich mit einem pochenden Schmerz. Ich ächze schwer und sacke etwas in mich zusammen. Dann schreie ich meine gesamte Wut aus mir heraus. „FICK DICH!“ Ich kämpfe mit den Tränen. Sie gewinnen. „Fuck!“. Mit zusammengepressten Lippen nehme ich alle Kraft zusammen. Dann schreie ich nochmal sehr laut „FICK DICH!“. Es tut gut, aber nicht so gut, wie ich gehofft habe.

Ihr Griff wird plötzlich stärker und mein Arm tut kurzzeitig mehr weh, als das angeschossene Bein. Dann sinke ich hinunter auf den Boden und komme auf meinen Knien zur Ruhe.

Der Glatzköpfige blickt mich analysierend an und streckt die Hand aus, die nicht mit einer Pistole auf mich zielt. „Das Telefon!“, sagt er und winkt mich mit der Hand zu sich.

Wir blicken uns an.

Er hebt die Waffe und zielt jetzt offenbar genauer auf meinen Kopf. „WO IST DAS TELEFON?“

Telefon!? Ich verstehe die Welt nicht mehr und für einen kurzen Moment wechselt meine Stimmung in völlig verwirrten Unglauben. „WELCHES VERFICKTE TELEFON, DU WICHSER!?“, schreie ich ihn an und meine Stimme verformt sich dabei zu einem Kreischen, während sich meine Spucke vor mir in der Luft verteilt. Ein Telefon!? Ein verficktes Telefon!?

Ihr Griff an meiner Seite wird stärker.

„Au!“, sage ich und blicke sie fassungslos an.

Sie schaut mir fest in die Augen, während ihr ein Licht aufgeht.

Ich stocke und halte den Atem an, als auch mir eins aufgeht. Das Telefon des Nachbarn! Es geht um das verfickte Telefon meines Nachbarn! Ich stutze, huste einmal kurz und lache dann leise.

„Das Telefon meines Nachbarn hat mir diese ganze Scheiße eingebrockt?“, denke ich laut. Ein scheiß Telefon hat meinen Nachbarn umgebracht und wird mich ebenfalls jede Sekunde umbringen, weil die verkohlten Überreste eben dieses Telefons ausgerechnet in einem Star Trek Voyager-Mülleimer mit Captain Janeway drauf in meiner Wohnung liegen. Ha!

Hinter dem Glatzköpfigen explodiert etwas großes und ein Feuerpilz steigt langsam, wie in Zeitlupe auf, als befänden wir uns alle in einem Michael Bay Film.

„Wow!“, sage ich, schaue dann weiter nach oben und kann jetzt deutlich die brennende Textur dieses … Dings erkennen. Die Temperatur steigt deutlich ins unangenehm heiße.

Plötzlich reisst sie mir den Arm zurück.

Wieder zieht ein Schmerz einmal durch meinen ganzen Körper. Ich wünsche mir so sehr, dass sie das lassen würde.

Sie aber greift entschlossen in meine Jackentaschen, wühlt aufgeregt darin herum, zieht mein altes iPhone hervor und hält es hoch in die Luft.

Sie brüllt etwas, während sie sich nach vorne beugt, um noch lauter schreien zu können.

Eine weitere Explosion dicht hinter dem Glatzköpfigen zerreißt die Luft. Ein ohrenbetäubender Knall erzeugt eine abrupte Stille in meinem Kopf.

Die Zeit scheint still zu stehen. Sie steht neben mir, den einen Arm nach vorne gestreckt, den anderen weiter hinter ihr mit meinem iPhone in der Hand. Ein Fetzen Stoff, der wohl von einer der unzähligen Explosionen um uns herum aufgewirbelt wurde, hat sich um ihren Hals gewickelt und hängt hinter ihr in der Luft. Sie sieht plötzlich aus wie Straßenkunst aus der Dose Banksys und so ein wenig habe ich mich in diesem Moment so richtig in sie verliebt.

Ein stechender Kopfschmerz überfällt mich und die Zeit springt einige Sekunden in die Zukunft, wie ein Bildsuchlauf bei einer alten Videokassette, bevor alles wieder abrupt abbremst und verlangsamt weiterläuft.

Sie hat das Telefon in Richtung des Glatzköpfigen geschleudert. Es schwebt langsam durch die Luft und dreht sich dabei wunderbar hypnotisch um die eigene Achse.

In meinem Gesicht formt sich ein zufriedenes Lächeln. Schön, wie es sich so dreht, denke ich. Obwohl mein Arm immer noch ganz doll weh tut. Und mein Bein. Und alles andere. Wäre ich nicht wieder stocktaub von der letzten Explosion und würde sich mein Kopf nicht anfühlen, als hätte man mir ein Dutzend Nägel ins Gehirn gehämmert, würde ich mir jetzt ruhige Musik mit Streichern vorstellen. Dann muss ich daran denken, dass mein iPhone das wahrscheinlich nicht überlebt. Doof. Das war ja noch gut.

Es schwebt jetzt in Kopfhöhe an dem Glatzköpfigen vorbei.

Mit einem ausgestreckten Arm hechtet der langsam durch die Luft, wie ein Torwart, der sich nach dem Ball streckt.

Mein vier Jahre altes Telefon dreht sich weiter in Zeitlupe um die eigene Achse und sieht dabei immer noch gut aus.

Dann schlingt sich seine Hand elegant um das Gerät und die Zeit scheint erneut einfach so anzuhalten.

Ich blicke auf den Glatzköpfigen, der mit dem Telefon in der ausgestreckten Hand einfach so in der Luft liegt.

Neben mir, verharrt in ihrer Bewegung, nach dem Wurf leicht gebückt, wie ein Werfer beim Baseball, steht sie.

So surreal fühlt sich also ein Schock an, denke ich bei mir. Sehr surreal, aber auch ganz schön. Dann merke ich, dass der Feuerpilz hinter dem Glatzköpfigen gar nicht kleiner wird. Eher das Gegenteil ist der Fall. Witzig.

Jetzt leuchtet seine Glatze ungewöhnlich rot und die schwarze Jacke fängt an zu dampfen. Er fängt Feuer.

Oha.

Erst brennt sein Arm, dann beide Beine, dann sein Kopf, dann der andere Arm, dann mein Telefon und nur Sekunden später verschlingt das Feuer beide komplett.

Eine Druckwelle schleudert mich meterweit durch die Luft. Alles ist schwarz. Schön, denke ich bei mir. Rot kann ich langsam auch nicht mehr sehen.

Alles ist wieder rot. Na toll. Mein Körper schmerzt an Stellen, die ich nicht zuordnen kann. Mein Hals fühlt sich rau an. Er ist trocken und tut dermaßen höllisch weh, dass ich nicht wage zu husten. Ich würde jetzt aber echt gerne husten. Ich öffne vorsichtig die Augen, sehe schemenhaft Millionen kleiner Staubteilchen um mich herum durch die Luft wirbeln und erkenne unscharf, dass ich in einem Berg aus Dreck und Trümmern liege. Eine Hand berührt meinen Rücken, greift mir unter die Arme und reißt mich hoch. Ich habe das Gefühl in zwei oder drei Teile gerissen zu werden. Ich huste jetzt doch einmal sehr stark, während sie mich stützt. Meine Augen versuchen Dinge um mich herum zu fokussieren, aber es gelingt ihnen nicht. Vor meinen Füßen erkenne ich unscharf einen riesigen Krater, an dessen Rand wir stehen und zusammen in den Abgrund starren. „Du …“, ich huste erneut und habe das Gefühl, dass mein Hals dabei in Stücke gerissen wird. Alles schmeckt nach Blut und ich bekleckere mich damit, bei dem Versuch es auszuspucken. „Du hast mein iPhone weggeschmissen!“, sage ich gebrochen.

Sie guckt mich entsetzt an. Dann fangen wir beide an zu lachen. Mehr Blut tritt aus meinem Mund hervor. Ich muss mittlerweile unheimlich viel davon verloren haben. Ach egal. Mir fällt ein, dass ich doch eigentlich frisch verliebt bin. Was macht es da schon, wenn ich etwas Blut verloren habe? Über uns knistert es sogar ein bisschen in der Luft. Dann kracht und knirscht es. Ich blicke nach oben und sehe dieses rot glühende … Ding auf uns zukommen. Spätestens jetzt wären alle Streicher verstummt.

Alles, was ich noch im Stande bin zu tun, ist einen sehr großen Seufzer auszustoßen. Dann merke ich plötzlich, dass meine Nase wieder frei ist. Ich atme tief durch und möchte ihre Hand fest drücken. Aber ihre Hand ist nicht da. Ich fahre herum und fühle eine eisige Kälte, als mir bewusst wird, dass ich alleine auf dem zerstörten Bahnhofsplatz stehe. Eisige Kälte, obwohl mir, mit diesem … Ding da oben ja eigentlich verdammt heiß sein sollte. Dann fühle ich mich plötzlich sehr einsam. Ich weine.

Jetzt sollte eigentlich mein Leben an meinem inneren Auge im Zeitraffer vorbeiziehen, aber ich sehe bloß noch einmal den echten Omar Sharif auf seinem Fahrrad an mir vorbeifahren. So eine Scheiße!

Ich vergieße noch ein paar weitere Tränen, bevor die Welt um mich herum ein letztes Mal schwarz wird und untergeht.

Doof, denke ich.

Epilog

Einige Tage früher

Ein leicht übergewichtiger Mann mit vorne nur noch wenigen Haaren sitzt an einem sehr aufgeräumten Schreibtisch in einem Büro, das irgendwie nach IT aussieht. Hinter ihm an der Wand hängt ein Poster mit einem Raumschiff aus dieser einen Science-Fiction-Serie drauf. Er starrt konzentriert auf einen Monitor und schiebt dort mit seiner Maus Dateien von einem Ordner in einen anderen. Vor ihm auf dem Schreibtisch lädt ein nagelneues iPhone. Offenbar handelt es sich bei den Dateien, die der Mann eilig kopiert, um Episoden unterschiedlichster TV-Serien, die er nicht ganz legal und an seinem Chefadministrator vorbei, aus dem Netz geladen hatte.

Durch ein Fenster fällt blendend das ungewöhnlich hell leuchtende Rot des Sonnenuntergangs direkt in sein Gesicht. Es blendet ihn genau in diesem Moment so stark, dass er nicht bemerkt, wie er neben vierzehn Folgen einer längst abgesetzten Science-Fiction-Serie auch noch die finale Folge der Gilmore Girls und eine Videodatei mit dem Namen „Nobunaga Container Osaka“ kopiert. Schützend hält er sich den Handrücken vor die Augen, erhebt sich vom Schreibtisch-Stuhl und streckt sich mit der anderen Hand nach einer Stange für die Lamellen-Jalousie. Ungeschickt lehnt er sich hinüber zum Fenster und schafft es gerade so, die Jalousie zu schließen. Er schiebt mit Daumen und Zeigefinger zwei Lamellen auseinander und blickt hinaus in die leuchtend rote Welt. Er kann nicht anders, als sich etwas über den Anblick dieses Farbenspiels zu wundern. Dann lehnt er sich zurück zum Bildschirm seines Computers, schließt alle Ordner und fährt den Computer geschickt mit einer Tastenkombination hinunter. Ohne sich noch einmal hinzusetzen, zieht er das Ladekabel aus dem iPhone, steckt jenes in seine Brusttasche, reißt einen ausgefüllten Urlaubszettel von einem Block neben sich und verlässt dann den Raum in Richtung eines Fahrstuhls. Als er das Licht ausschaltet, ist es nur noch das leuchtende Rot des seltsamen Sonnenuntergangs, das an den Vorhängen vorbei den Flur in ein beängstigendes Licht taucht. Dann betätigt er den Knopf des Fahrstuhls.

Ende.